damals warst du still (goldmann 2004)

1980
Er war ein Junge mit kräftigen blonden Locken und braunen Augen, den anfangs alle niedlich fanden trotz seiner leichten Behinderung. Alle, außer seiner Mutter, die schon vor der Katastrophe etwas ahnte ohne es genauer wissen zu wollen. Besonders ihr zu Gefallen hielt er seine öffentliche Maskerade aufrecht, denn ihm war klar, dass er wenigstens eine einzige Verbündete brauchte.

Natürlich war seine Mutter alles andere als das. Natürlich verriet sie ihn nur deshalb nicht an den Rest der Welt, weil sie Angst hatte, selber in ein schlechtes Licht zu geraten. Genau aus diesem Grund würde sie weiter schweigen, so lange er ihren ungeschriebenen Vertrag erfüllte, der aus einem einzigen Satz bestand.
Wehe, jemand merkt was.

 

Seine Mutter und sein Vater waren Ärzte und hatten häufig an den Wochenenden Dienst. Seine Schwester war viel älter als er und dachte nicht daran, in ihrer knappen Freizeit auf ihn aufzupassen. So war er an diesen magischen Tagen ganz allein mit sich, in seiner alternativen Welt, die er wie ein Puzzle Stück für Stück zusammensetzte. Irgendwann würde sie so vollkommen sein wie ein dreidimensionales Gemälde, irgendwann würde sie leuchten – in düsteren, faszinierenden Farben. Irgendwann würde er sich darin bewegen können wie in einer realen Landschaft, nur millionenmal schneller. Er wusste (aber nicht woher), dass er dazu bestimmt war, etwas zu erschaffen, das es noch nicht gab. Manchmal fürchtete er sich vor seinem Auftrag, dessen Umfang noch im Dunkel der Zukunft lag, dann wieder überwältigte ihn ein Gefühl der Befriedigung, wenn er nach exakten Vorgaben geleistet hatte, was er sich vorgenommen hatte.

Er stand ganz am Anfang, er war ja erst acht. Begonnen hatte es mit dem Sezieren von Spinnen und Fliegen, deren Flügel und Beine er sorgfältig ausgerissen hatte, um die nun wehrlosen Körper akribisch zu untersuchen. Die Gefühle, die ihn dabei durchfluteten, waren machtvoll und unbeschreiblich, aber noch nicht voll befriedigend. Ein Weberknecht zum Beispiel bestand ohne seine langen, dürren Gliedmaßen nur aus Kopf und einem komplett charakterlosen Leib. Da beides so winzig war, konnte man mit bloßem Auge nicht genau sehen, wann und mit welchen eventuellen Verrenkungen die Spinne ihren Geist endgültig aufgab. Also wünschte sich der Junge eine Lupe, um den Prozess des Sterbens besser beobachten zu können. Seine Eltern machte er weis, dass seine Lehrerin dieses Utensil für den Unterricht eingefordert hatten. Die glaubten ihm kein Wort und beschieden ihn mit der Information, dass es in der Republik zurzeit keine Vergrößerungsgläser zu kaufen gebe. Aber der Junge blieb hartnäckig, und schließ-lich bekam er von der Oma das, was er sich wünschte, wenn auch mit der Auflage, einen Bedankemich-Brief zu schreiben.
Es war sein achter Geburtstag, und die Lupe das erste, was er auspackte. Seine Freude war groß und äußerte sich in einem kurzen Aufleuchten seiner seltsam kalten Augen. Die übrigen Geschenke sah er nicht einmal an. Seine Eltern wechselten verärgerte Blicke, als er die ersehnte Lupe – ein altes, schon leicht zerkratztes Modell, das laut dem Begleitschreiben der Oma dem Stief-Opa gehört hatte – an sein Gesicht drückte. Das gebogene Glas kühlte seine heiße Stirn. Nach dem gemeinsamen Frühstück entwischte er in den Garten. Es war ein kalter, verregneter Juni-Morgen. Kein Tag, um draußen zu sein.

Seine Mutter spürte ihn auf, als er, vollkommen in seine Tätigkeit versunken, auf einer der steinernen Stufen hockte, die zu einem kleinen, mit Unkraut zugewucherten, nie benutzten Pavillon führten. Es nieselte, als sie langsam auf ihn zukam, mit diesem komischen Gefühl in der Magengrube, das sie in letzter Zeit häufiger erfasste, wenn sie über ihn nachdachte. Langsam trat sie näher, bis sie hinter ihm stand. Ihr Sohn bemerkte sie nicht. Auf seinem grauen Wollpullover glitzerten winzige Regentropfen wie Diamanten, seine Haare waren dunkel und strähnig vor Nässe. Sie beugte sich über seinen schmalen, gekrümmten Rücken. Dann zog sie scharf die Luft ein. Vor dem Jungen, auf der regennassen Stufe, lagen die sorgfältig längs tranchierten Hälften eines riesigen Hirschkäfers und daneben ihr kleines, scharfes Küchenmesser. Der Junge nahm die eine Hälfte des Käfers am Geweih (die Beinchen schienen sich noch schwach zu bewegen) und begutachtete sie eingehend durch die Lupe. Sein Atem ging stoßweise, als sei dieser Akt mit einer enormen körperlichen Anstrengung verbunden.

Das war das Schlimmste: dieses heftige unregelmäßige Keuchen. Die Luft um ihn herum schien zu dampfen. Sie hätte schwören können, dass sein Körper fieberheiß war, aber sie war nicht imstande, ihn zu berühren.
Sie hob im ersten Impuls die Hand, um ihm eine zu pfeffern – ihre übliche Art, Probleme aus der Welt zu schaffen. Aber irgendetwas hielt sie davon ab. Angst vielleicht. Sie ging rückwärts durch das hohe, nasse Gras. Ihre Gedanken schlugen seltsame Volten und schienen gleichzeitig stillzustehen. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen für diese widerliche... ekelhafte...
Warum tat sie es dann nicht? Warum lief sie davon?
Sie versuchte, sich zu beruhigen.
Vielleicht taten sowas alle Kinder. Hatte sie selbst nicht auch Insekten getötet und seziert?
Ja, schon. Aber anders. Nicht so – nicht mit dieser stummen, fokussierten Besessenheit.
Als der Junge außer Sichtweite war, drehte sie sich um und fing an zu laufen. Nicht ins Haus, sondern trotz der Kälte und des Regens aus dem Garten hinaus, die ungeteerte Straße entlang, an den Grundstücken der Nachbarn vorbei, bis sie auf den einzige Gasthof des Ortes stieß. Er hieß ”Zur Wende”, weil die Straße hier einen scharfen Knick vollzog. Sie fühlte sich nicht gut, das musste als Begründung für den reichlich frühen Besuch reichen. Sie versuchte die Tür aufzustoßen, aber sie hatte vergessen, dass ”Zur Wende” am Sonntag vormittag geschlossen hatte.
Kein Schnaps, nirgends. Ihr Mann hielt nichts davon, sich tagsüber einen zu genehmigen, deswegen konnte sie jetzt nicht einmal an ihre Hausbar heran. Langsam ging sie wieder nach Hause, wo sie nicht hinwollte, aber es gab ja keinen anderen Platz, wo sie hin konnte. Niemand wollte hier sein. Nicht sie, nicht ihr Mann, nicht ihre Kinder, nicht die Nachbarn, niemand. Aber der Ort, in dem sie lebten, befand sich auf einer Lagune, deshalb gab es nur einen Eingang, keinen Ausgang. So dachte sie manchmal, obwohl sie natürlich wusste, dass das komplett absurd war (jeden Morgen fuhr sie schließlich ungehindert heraus aus dem Ort zu ihrem Arbeitsplatz, einer Klinik in der benachbarten Kreisstadt).
Nur ein Eingang, kein Ausgang. Wen es hierher verschlug, kam nie wieder weg. Sie war dieses Gefühl nie losgeworden.

Seit dem Tag X behielt sie ihren Sohn im Auge - und er sie. Sie unternahm zwar im Grunde gar nichts, nicht einmal die fällige Tracht Prügel fand statt, aber er wusste trotzdem, was los war. Er hatte diese Begabung, Stimmungen zu erkennen, bevor sie ausgesprochen wurden. Auch dann, wenn sie niemals ausgesprochen wurden. Manchmal war er sich selbst unheimlich. Er war kein normaler Junge. In ihm schien eine zweite Persönlichkeit zu existieren, die vollkommen unabhängig von seiner ersten funktionierte. Diesen unsichtbaren Schatten zu nähren war seine Aufgabe – anders hätte er es nicht erklären können, wenn ihn jemand gefragt hätte.

Aber das tat niemand, und schon gar nicht seine Mutter. Sie sah ihn nur immer wieder merkwürdig an und nahm ihm bei passender Gelegenheit seine Lupe weg, und das nicht einmal, sondern mehrmals, immer wieder, und jedes Mal ganz gegen ihre Gewohnheit ohne böses Wort. Aber er fand die Verstecke immer. Sie waren so simpel und schlecht ausgedacht, als ob etwas in ihr wollte, dass er weiter machte mit seinen komischen, kranken Spielen. Diesen stummen Kampf führten sie monatelang, bis er dazu überging, die Lupe immer bei sich zu tragen, selbst in der Schule, wo er gar keine Verwendung für sie hatte.

Niemand dort kannte seinen geheimen Schatz. Er hatte keine Freunde und keine Feinde. Anfangs hatten ihn einige Mitschüler gehänselt, weil er für sein Alter klein und dünn war. Aber mittlerweile traute sich niemand mehr an ihn heran. Kinder besitzen ein feines Gespür dafür, welche Angriffe echte Wunden schlagen, und ihm konnten sie nichts anhaben. Mehrfach war er von den Stärkeren der Klasse verprügelt worden. Er hatte sich nicht gewehrt, aber sein Blick hatte ausgereicht: Es machte keinen Spaß, ihn zu quälen.
Es machte eher Angst.

 

zurück