die stimmen (goldmann 2001)

Der graue Fleck vergrößerte sich, ihre Schritte wurden schneller und sicherer, bis sie auf ein Felsplateau trat, das ihr sonderbar bekannt vorkam. Aber sie kam nicht dazu, länger darüber nachzudenken, denn der Anblick, der sich ihr bot, war überwältigend. Unter ihr lag eine gähnend schwarze Schlucht, aus der sich, scheinbar wie aus dem Nichts, eine steile, gezackte Felsnase erhob, schneeweiß vom Mond beleuchtet. Der leichte Wind, der die Bäume rauschen ließ, hatte schlagartig aufgehört, die Stille war grenzenlos, unheimlich, unwirklich. Und da wurde ihr mit einem Mal klar, wo sie sich befand: in unmittelbarer Nähe der Hütte. Sie hatte sich auf verwirrende Weise bergauf und bergab im Kreis bewegt. Es war so, als müsste sie wieder ganz von vorne anfangen. Dieser Gedanke nahm ihr wieder all den Mut, der sie noch vor eine Minute angetrieben hatte.
Ein Rauschen hinter ihr. Oder das Knacken eines Nachttiers im Unterholz. Sie wollte sich umdrehen, aber gleichzeitig auch wieder nicht, als gäbe es da eine Ahnung, die sie lieber nicht überprüfte. Wieder ein Knacken, diesmal stammte es eindeutig von brechenden Zweigen. Jemand kam von hinten auf sie zu. Ein Mensch. Sie drehte sich um und wollte etwas sagen, da hatte sie das eisige Ding schon um den Hals. Es schnitt ein, schürfte ihre Haut auf, tat furchtbar weh. Sie versuchte, ihre Finger zwischen den dünnen Draht, der ihr die Luft abschnürte, und ihren Hals zu schieben, aber der Zug war viel zu stark. Sie boxte mit den Ellenbogen nach hinten: Sie wollte ja unbedingt leben! Jetzt erst wusste sie, wie sehr! Aber das änderte nichts daran, dass der grausame Schmerz ihr die Kräfte raubte. Sie dachte noch: Wenn ich so tue, als sei ich ohnmächtig, und mich fallen lasse, dann ... Aber da war es schon zu spät für solche Tricks. Ihr Tod, immerhin, war wie ein sanfter Fall in ein wunderschönes, farbiges Licht.

 

2

”Eine Garrotte ist ein Halseisen. In Spanien und Portugal wurde damit früher die Todesstrafe vollstreckt”, sagt der Gerichtsmediziner, ein kleiner, runder Mann mit gesunder Gesichtsfarbe, Professor am Institut für Rechtsmedizin. Er heißt Herzog, und wird wegen seiner untersetzten Statur und seiner selbstbewussten Körperhaltung von den Kollegen im Dezernat 11 Napoleon genannt. Mona ist mindestens einen Kopf größer als er, aber er bedenkt sie, wie üblich, mit einem Blick, als sei es genau umgekehrt.
Sie stehen im Erdgeschoss des Instituts für Rechtsmedizin vor den schweren, matt glänzenden Metalltüren der Kühlräume. Ein Rumpeln ertönt, und eine der Türen schwingt auf. Ein junger Mann mit Glatze schiebt den Rollwagen mit der abgedeckten Leiche Konstantin Steyers heraus.
”Wo soll ich ihn hinstellen?”
”Schieben Sie ihn ans Fenster”, sagt Herzog und winkt Mona, ihm zu folgen. Seine festen Schritte machen ein hallendes Geräusch in dem hohen gefliesten Raum. Es riecht schwach nach Desinfektionsmitteln.
”Seit wann sind Sie eigentlich in Ihrer neuen Position?” fragt Herzog im Plauderton.
”Seit bald zwei Wochen”, sagt Mona, obwohl sie sicher ist, dass Herzog diese Information längst hat. Fischer war schließlich gestern bei der Sektion dabei.
”Danke, Bernd”, sagt Herzog zu dem jungen Mann, der sich daraufhin zurückzieht. Mona schlägt das weiße Plastiktuch über der Leiche zurück. Blasses Tageslicht fällt auf Steyer und lässt seine Haut noch grauer und lebloser wirken. Eine lange Naht führt vom Kinn bis zu den Genitalien. Auch die Halswunde ist mit groben Stichen vernäht.
”Fischer sagt, er sei nicht erstickt. Stimmt das?”
Herzog lächelt. Wenn ihn die Frage irritiert, lässt er sich nichts anmerken. Warum sollte Fischer sie anlügen? Es gibt doch ohnehin ein Sektionsprotokoll. ”Sagen wir so: Er wäre erstickt. Wenn er nicht vorher durch eine Luftembolie gestorben wäre.”
”Aha.”
Herzog beugt sich über die Leiche und legt einen Finger auf eine Stelle der Halswunde. ”Durch das sehr dünne, sehr feste Drosselwerkzeug wurde die Halsvene verletzt, deswegen auch das viele Blut. Blutet die Halsvene, kann ein Unterdruck entstehen. Luft wird in den Blutkreislauf gesogen, das Herz schlägt Schaum, um es mal so auszudrücken. Es kommt zu Krämpfen. Dann hört das Herz auf, zu schlagen.”
”Wie lange hat es gedauert?”
”Etwa sechs Minuten, denk ich mal. Nach vier Minuten tritt Bewusstlosigkeit ein.”
”Welches Werkzeug?”
”Fischer hat mich auf die Idee gebracht, und ich denke, das könnte plausibel sein: Wahrscheinlich ein relativ dünnes Stück Draht, das mit zwei Holzgriffen verbunden wurde, damit es nicht in die Hände einschneiden kann. Verstehen Sie?” Herzog macht eine pantomische Bewegung mit seinen beiden Händen, als würde er an einem Expander ziehen. ”Man legt es der Zielperson um den Hals, und zieht ruckartig an den Griffen. Eine einfache, leise und relativ effiziente Waffe. Das Zubehör kriegen Sie in jedem Baumarkt.”
”Ist er betäubt worden? Drogen, Barbiturate und so weiter?”
”Benzodiazepine”, sagt Herzog so rasch, als hätte er auf diese Frage gewartet.
Mona horcht auf. Das hat Fischer ihr nicht gesagt.
”Valium oder so was?”
”Ja, zum Beispiel. Könnte Valium gewesen sein. Jedenfalls ein Tranquilizer. Wie geht’s Ihnen in Ihrer neuen Position? Herzlichen Glückwunsch übrigens.”
”Danke. Und die Dosis?”
Herzog lächelt wieder, und plötzlich spürt Mona den Impuls, sich ihm anzuvertrauen. Aber so eng waren sie noch nie miteinander.
”Schon relativ hoch, aber nicht hoch genug. Er war nicht betäubt, wenn Sie das meinen. Vielleicht etwas gedämpft. Aber sonst voll da.”
Mona versteht nicht. Herzog sagt: ”Ich denke, er hat es selbst genommen. Möglicherweise regelmäßig über einen längeren Zeitraum. Verstehen Sie, irgendein Arzt hat es ihm verschrieben, ganz normal. Als Psychokrücke. Befand er sich in einer Krise?”
”Weiß nicht. Alle Vernommenen sagen das Gegenteil. Irgendwelche Krankheiten?”
”Nichts ansonsten. Der Mann war kerngesund und fit. Alle Organe normal. Blut normal. Wirklich bedauerlich, wenn Sie verstehen, was ich meine.”
Mona nickt, und sieht auf die Leiche Konstantin Steyers, die jetzt zur Beerdigung freigegeben werden kann. Eine schöne Leich’ sagt man hier auf dem Land, wenn die Beerdigung samt Totenmahl einen würdigen Verlauf genommen hat. Für Mona bekommt dieser Ausdruck plötzlich seine wörtliche Bedeutung zurück: Konstantin Steyer ist noch immer schön, trotz der Halswunde, trotz der groben Naht, die seinen Körper verunstaltet, und obwohl ihm der Tod alles Charakteristische geraubt hat. Aber seine Gesichtszüge sind fein, seine dunklen Haare dicht und voll, der Körper schlank, breitschultrig und kräftig. Kein Junkie, kein Trinker, kein von vielen Krankheiten geschwächter Obdachloser, keine gestrandete Existenz, die ihr Leben im Grunde schon hinter sich hat. Stattdessen jemand, der gern gelebt und noch viel vorgehabt hat. Den Eindruck jedenfalls machte er auf den Rest der Welt.
”... unser Sohn war alles für uns”, steht in dem Brief der Eltern, der auch den örtlichen Medien vorliegt. ”Er war ein friedlicher, liebenswerter, fröhlicher Mensch. Er gab niemandem Anlass zu Hass oder Aggression. Wir werden also nicht ruhen, bis die Person gefasst ist, die sein Leben auf die brutalste Weise beendet hat. Hierfür verlangen wir entschieden mehr Kooperation von seiten der örtlichen Behörden. Es ist zum Beispiel eine unerhört selbstherrliche Praxis, dass wir nicht kontinuierlich über die Ermittlungsfortschritte Ihrer Beamten informiert werden (gibt es die überhaupt? Wir haben nicht den Eindruck!). Stattdessen wurde uns lapidar mitgeteilt, es gebe derzeit keine Verdächtigen, man werde aber jeder Spur nachgehen, die sich biete. Mit derart unsensiblen Leerformeln abgespeist zu werden nachdem man gerade sein einziges Kind verloren hat, ist bitter und kann von unserer Seite nicht geduldet werden...”
Und so weiter. Mona kann die Schlagzeilen schon vor sich sehen. Eltern des Toten klagen Kripo an Sie hat die Steyers gemäß Armbrüsters Ratschlag angerufen, und sich bei dieser Gelegenheit das Versprechen abnehmen lassen, heute Abend im Hotel Raffael über die Ermittlungen Bericht zu erstatten. Was möglicherweise ein Fehler war. Aber die Mutter Steyers hat am Telefon entsetzlich geschluchzt, so dass es ihr sicherer scheint, hinzugehen. Sicherer als einen Nervenzusammenbruch zu riskieren, der erneut die Presse beschäftigen würde.
”Noch mal zu der Garrotte”, sagt sie zu Herzog, während sie die Leiche langsam wieder zudeckt, aber Gesicht und Hals freilässt.
”Es ist keine Garrotte. Das habe ich ihnen doch erklärt. Wer hat Ihnen diesen Begriff bloß eingeblasen?”
”Das war Fischer. Wegen den Wundrändern.”
”Also, das mit dem Draht habe ich Ihnen erklärt. Keine Garrotte, ein Draht.”
”Ja”, sagt Mona. ”Ich bin nicht begriffsstutzig. Vergessen Sie die Garrotte.” Sie hat zu laut gesprochen. Sie muss sich zusammenreißen. Sie reagiert zu empfindlich und gibt sich dadurch Blößen. Aber dann holt sie doch unwillkürlich so tief Luft, dass Herzog sie neugierig ansieht.
”Ist Ihnen nicht gut?”
”Doch”, sagt Mona und spürt im gleichen Moment, dass ihr die Atmosphäre in Wirklichkeit auf den Magen schlägt. Die alten, gilbigen Kacheln, der Betonboden, die drei grauen steinernen Sektionswannen in der Mitte des Raums. Die Leiche selbst. Sie hat schon so viele gesehen. Sie hat schon so oft das Geräusch gehört, wenn ein toter Körper auf den Rollwagen gehievt wird - es ist ein dumpfes lautes ”plong”, weil das erschlaffte Muskelfleisch den Aufprall der Knochen auf Metall nicht mehr abfedern kann - sie war bei zig Obduktionen dabei, hat den Geruch nach Kot, Urin und fauligem Fleisch ausgehalten und den Anblick, wie Blut und Körperflüssigkeiten gurgelnd im Abfluss der Sektionswannen verschwanden. Und trotzdem ist es jedes Mal anders.
”Hier müsste mal neu gefliest werden”, sagt sie schließlich.
”Für eine Renovierung ist leider kein Geld da, das wissen Sie ja”, sagt Herzog, und behält sie weiter im Auge.
”Na ja. Das ist ja überall das gleiche.” Mona reißt sich zusammen. ”Also nochmal zum Werkzeug. Der Draht.”
”Ja”, sagt Herzog. Endlich wendet er den Blick ab und wird wieder professionell. ”Die Wundränder sind fransig, nicht glatt wie bei einem Messerschnitt. Außerdem verlaufen sie über den gesamten Hals, also auch den Nacken des Opfers. Letzteres ist ein Indiz für ein Strangulationswerkzeug. Wollen Sie die Wunde im Nacken sehen? Dann müsste ich den Toten umdrehen.”
”Nein, nein.”
”Hier an den Augenlidern sehen Sie die punktförmigen Läsionen, die mit absoluter Sicherheit auf ein Drosselwerkzeug hinweisen. Da gibt’s also überhaupt keinen Zweifel. Ich würde sagen, der Täter hat mit aller Kraft zugezogen, so fest, dass die Halsvene verletzt wurde.”
”Meinen Sie, der Täter wollte das? Ganz sicher gehen, dass Steyer wirklich stirbt, meine ich?”
Hellblaue Augen hinter farblosen Wimpern heften sich auf sie. ”Ich denke, jeder Täter, der einen Mord im Sinn hat, möchte gern ganz sicher gehen, dass die Sache auch klappt.”
Mona lächelt mit zusammengepressten Lippen. ”Kein Affekt?”
Herzog lächelt jetzt auch. ”Die Ermittlungsarbeit müssen Sie leisten. Meiner Ansicht nach fertigt niemand eine derartige Waffe an, wenn er sie nicht benutzen will. Diese Garrotte, wie Sie sie nennen, hat meiner Ansicht nach nur einen Zweck. Jemanden zu töten.”

 

3

”Und sie kann’s nicht gewesen sein?” fragt EKHK Krieger, Chef der Mordkommissionen und Monas direkter Vorgesetzter.
”Wer? Die Stolowski? Nie”, sagt Mona. ”Das Mädchen ist dermaßen...” Ihr fällt kein anderes Wort außer unschuldig ein, aber das erscheint ihr nicht passend. ”Bis jemand wie die tötet – da müsste alles mögliche passiert sein.”
”Vielleicht hatte sie schlechte Erfahrungen mit Männern, die sich summiert haben. Vielleicht gab’s Grund zur Eifersucht. Habt ihr mal ihr Vorleben untersucht?”
”Ja. Alles normal. Gute Schülerin, gute Studentin, viele Freunde, jeder mag sie. Außerdem töten Frauen nicht aus Eifersucht, das machen nur Männer. Frauen töten, weil sie jemanden loswerden wollen.”
”Ach, sieh an.”
”Das weißt du doch selber ganz genau.”
”Kein Fall...”
”... ist wie der andere. Weiß ich schon.”
”Warum sitzt du dann eigentlich hier, wenn du eh schon alles weißt?”
Mona bemerkt, dass sich ihr Gesicht im Fenster hinter Krieger spiegelt. Aus der Entfernung sieht es klein und verzerrt aus, die langen braunen Haare wirkten kompakt wie ein Umhang. Sie muss den Pony schneiden lassen. Fünf Uhr nachmittags, und sie hat nichts gegessen außer einem Hamburger mit Pommes. Das hört sich nach einem unerhört stressigen Arbeitstag an, aber was hat sie schon groß getan, außer unentwegt telefonieren, konferieren und Protokolle lesen? Lukas sitzt jetzt wahrscheinlich schon in der leeren Wohnung, und zappt sich durch die Fernsehprogramme. Vielleicht hat er auch seinen Freund Jan mitgebracht. In diesem Fall sind wahrscheinlich Computerspiele angesagt.
”Fühlst du dich eigentlich wohl im Moment?” fragt Krieger plötzlich.
Mona sieht ihn an. Was bezweckt er damit? Will er es wirklich wissen oder war das eine versteckte Kritik?
”Klar”, sagt sie mit neutraler Stimme. ”Wieso fragst du?”
”Kein besonderer Grund. Du bist vor kurzem befördert worden, du hast deinen ersten Fall – ich könnte mir vorstellen, dass...”
”Mich das alles überfordert?”
”Nein!” Krieger rutscht nervös auf seinem Sessel hin und her. Was seltsam aussieht, weil er so ein schwerer Mann ist. Er nimmt seine Brille ab und kaut auf einem der Bügel herum. ”Berti hat gemeint...”
”Berti?”
”Berti Armbrüster.”
”Armbrüster! Was hat der damit zu tun?”
”Nichts! Du hattest Probleme mit den Eltern des Opfers, stimmt das?”
”Das hat Armbrüster dir erzählt.”
”Es ist doch egal, wer.”
”Ich hatte keine Probleme mit den Eltern. Die Eltern haben ein Wunder erwartet, und Wunder gibt’s keine.”
”Schön. Ich will nicht diesen Ärger mit der Presse.”
”Die Eltern haben seither keine Interviews mehr gegeben.”
”Aber sie sind noch hier.”
”Ich kann sie schlecht nach Hause schicken.”
Schweigen. Draußen dröhnt der Verkehr, bimmelt eine Tram. Mona beschließt, dass es besser ist, nicht weiter auf diesem Thema herumzureiten.
”Um deine Frage zu beantworten, mir geht’s gut. Und ich würde morgen ganz gern mal dienstlich nach Issing.”
”Wie bitte?”
”Ja. Ein Typ namens Bode war heute hier. Die haben da einen ähnlichen Fall, in einem Internat in Issing. Eine erdrosselte Frau, wahrscheinlich auch mit einem Draht.” Mona schildert die Umstände. Krieger wirkt nicht sonderlich beeindruckt.
”Der Täter ist ebenfalls unbekannt?” fragt er.
”Ja. Dem Ehemann haben die acht Schüler ein Alibi gegeben. Fünf von ihnen haben zusammen mit ihm die halbe Nacht durchgemacht, haben gebechert und diskutiert. Gegen vier Uhr wollten sie alle noch ein paar Stunden schlafen, und stellten dabei fest, dass sie nicht mehr da war.”
”Die Frau des Lehrers?”
”Genau. Ihr Schlafsack lag noch da, aber sie war weg. Oder so ähnlich.”
Krieger setzt seine Brille wieder auf, dann wieder ab. Dann legt er sie auf den Tisch. Dann reibt er sich den Nasenrücken zwischen den Augen, als seien da unsichtbare Druckstellen von der Brille.
”Mona, sei mir mir nicht bös, aber ich versteh’ trotzdem nicht, was du in Issing willst. Wenn du Fragen hast, ruf diesen Bode doch an.”
Mona überlegt. Dann sagt sie: ”Hier treten wir auf der Stelle, ehrlich gesagt. Wir wissen nicht mehr, in welche Richtung wir ermitteln sollen. Vielleicht bringt Issing ja was.”
”Du willst also auf Staatskosten eine kleine Landpartie machen.”
”Bei dem Wetter? Das glaubst du doch selber nicht.”
Krieger setzt seine Brille wieder auf. ”Mit Humor hast du’s nicht so, was?”
Mona schweigt ein paar Sekunden, weil sie auf diesen Punkt empfindlich reagiert. Immer wieder werfen ihr Leute vor, dass sie alleswörtlich nimmt. Sie ist immer die letzte, die merkt, wenn sich jemand bloß lustig macht.
”Heißt das, es geht in Ordnung? Kann ich Fischer mitnehmen?”
”Nein, heißt es nicht. Erst mal ermittelt ihr bitte rund um den Tatort. Ihr könnt ja den Kontakt zu diesem Bode halten. Sollte sich da was ergeben, können wir noch mal drüber reden.”

 

4

Wenn es kalt wurde, setzte sie sich gern auf den geheizten Kachelofen. Sie hatte sich ein Kissen besorgt, das dick genug war, die Hitze abzuhalten aber die Wärme durchließ. Manchmal meditierte sie stundenlang im Schneidersitz auf diesem Platz, spürte, wie die Wärme ihre dauernd frierenden Beine umfing, dann Po und Rücken hochstieg, und schließlich in ihrem Bauch ankam. Manchmal las sie auf dem Ofen so lange bis sie einnickte. Es waren immer die gleichen Bücher, aber das erschien ihr ganz natürlich. Effie Briest, Die Verwandlung, Ansichten eines Clowns, Der geteilte Himmel, Die Rote, Die Blechtrommel. Sie kannte sie fast auswendig. Sie waren wie Freunde, die sie jederzeit besuchen konnte oder wie vertraute Landschaften, in denen sie sich wohlfühlte.
Aber heute klappte es nicht. Sie hatte es versucht, hatte Papier, Holz und Kohlen eingefüllt, und ungeduldig gewartet, bis der Ofen endlich richtig heiß war, aber dann war sie nach zwanzig Minuten wieder heruntergesprungen, und in ihrer Wohnung (dem Dreckloch ) herumgelaufen wie ein eingesperrtes Tier. Das Gleichmaß ihrer Tage war gestört worden. Weil sie mal wieder versucht hatte, sich auf die Außenwelt einzulassen. Weil sie glaubte, sich beweisen zu müssen, dass sie in der Lage war, dort zu funktionieren, wenn sie nur wollte.
Das Lokal, das sie als Aushilfskraft für die Messezeit einstellen wollte, lag in der Nähe der Theresienwiese. Eine Schänke im billigen Rustikalstil, wo sich dickbäuchige alte Männer schon mittags betranken. Das, hatte sie gedacht, würde sie wohl gerade noch packen. Aber es ging schon mit der Lohnsteuerkarte los, die sie nicht hatte. Dann war der Geruch dort unerträglich. Dann behandelte sie der Besitzer wie eine Bittstellerin, und glaubte, ihr Vorschriften machen zu müssen. In dem Aufzug können Sie hier nicht arbeiten, das ist Ihnen schon klar! Dann starrten sie die wenigen Gäste an, als käme sie vom Mond oder als hätten sie seit Jahren keine Frau mehr gesehen, die nicht so fett war wie ihre eigenen. Sie hatte zum Besitzer gesagt, dass sie es sich nochmal überlegen müsse, und ihm morgen Bescheid sagen würde. Ganz höflich. Trotzdem hatte er sie angefahren wie nicht ganz dicht.
Schleich di, du blede Henna.
Das hatte sie durcheinandergebracht. So sehr, dass sie sich unmöglich entspannen konnte. Es gab die Leute draußen. Sie bemerkten sie, sie bildeten sich ihr Urteil über sie, sie manipulierten ihr Selbstbild. Es war ihre Schuld. Sie hatte es zugelassen, obwohl sie vorher hätte wissen müssen, wozu es führte, wenn man die Welt in seine Gedanken einließ.
Sie öffnete die Schranktür in ihrem winzigen Schlafzimmer, und betrachtete sich im großen Spiegel an der Innenseite. Jeans, dicker Woll-Pullover, feste Schuhe. Im Lokal hatte sie noch einen alten Armeeparka darüber getragen. Was war daran auszusetzen? Sie bekam zur Sozialhilfe auch Wohngeld und Kleidergeld. Es war an der Zeit, sich was Neues zum anziehen zu kaufen, sie war die letzte, die das nicht zugegeben hätte. Im vergangenen Sommer hatte sie nicht mehr gebraucht als die Jeans und ein paar T-Shirts, die sie sich zurechtgeschnitten hatte, weil heuer bauchfrei angesagt war. Aber jetzt war Spätherbst und sie konnte nicht täglich das Gleiche anziehen, die Sachen hatten Flecken. Sie rochen nicht, aber sie hatten Flecken. Das sah sie jetzt im Licht der untergehenden Sonne, die endlich die Nebelwand durchdrungen hatte und ihr Dreckloch in goldgelbes Licht tauchte.
Sie brauchte Sonne, das war das ganze Geheimnis. Bei Wärme und schönem Wetter hielt sich die nervige Belegschaft in ihrem Kopf zurück. Funkte ihr nicht mit albernen, beängstigenden Gedanken dazwischen, wenn sie sich im Englischen Garten sonnte und manchmal sogar mit Leuten ins Gespräch kam, die munter, jung und normal waren und sich trotzdem gerne mit ihr unterhielten. Abends liefen sie gemeinsam über die Wiesen, den langen Schatten der Bäume entgegen, im Ohr das allgegenwärtige Trommeln der Bongospieler, die sich jeden Sommerabend am Monopteros trafen.
Sie war kein Wintertyp, nie gewesen. Im Winter bereitete ihr alles Probleme. Schon das Verlassen der Wohnung wurde zum Kraftakt, weil sie draußen nicht nur die geballte Gleichgültigkeit der Passanten auszuhalten hatte, sondern auch noch Kälte, Nässe und trübe Farben. In diesen Monaten der Dunkelheit ging es eigentlich nur darum, irgendwie am Leben zu bleiben, die Angst und den Zorn in Schach zu halten. Deshalb hatte sie die Idee gehabt, sich einen Job zu suchen. Die körperliche Anstrengung, dachte sie, würde sie vielleicht betäuben. Das war doch der Grund, weshalb alle Welt glaubte, arbeiten zu müssen: Um dem Denken zu entkommen. Begann man nämlich zu denken, richtig zu denken, konsequent bis auf den Grund der Dinge, dann erfuhr man, was kein Mensch verkraften konnte. Und wenn man es einmal wusste, konnte man es nicht mehr vergessen.
Wie hatten das die Philosophen gemacht? Das Sein und das Nichts – wie hatten sie mit der Erkenntnis gelebt, dass Leben bloße Existenz und Tod nicht Erfüllung war sondern Rückfall in die totale Leere? Vielleicht hatten sie es nur gedacht, nie gefühlt. Sie dagegen fühlte es – das absolute Nichts, die ultimative Verneinung aller Glaubensthesen. In solchen Phasen verlor sie jedes Gefühl für sich selbst. Sie existierte nicht mehr, nicht einmal mehr in ihrem eigenen Bewusstsein. Sie musste sich selber wehtun, um zu merken, dass es sie gab.

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